Das Lied der Sieben Kastanien – Kapitel 28

»Eine unserer Sucheinheiten hat es geschafft die Erdmarines in der alten Kanalisation von Neu Moskau zu finden«, erklärte Enkidu Ki den Admirälen im abgedunkelten Mondzimmer. Er stand vor einem großen Monitor, auf dem eine sterilisierte Stadtkarte abgebildet war. »Es waren sehr alte Schächte aus der Zeit der ersten Kolonialisation, als es noch ein Minenstation war und somit nicht in den offiziellen Plänen verzeichnet. Es war purer Zufall, dass die Einheit dein Eingang bei einem der kleineren Seitenkanäle bemerkte.«

Er meint das Reich des stillen Wassers, dachte sich Nadia, die schwarzen,starken Kaffee servierte. Einer der vielen Wunder der Stadt. Glänzendes Wasser und ein wunderbares Orchester, bestehend aus den vielen tausenden Tropfen die da immer fallen. Besonders die Katzen haben es da immer gemocht. Ich ging dort früher immer gerne mit Sonja hin.

»Wie erwartet zeigten die Mariens sich unwillig sich zu ergeben. Es folgten Kämpfe in denen mehr und mehr unserer Streitkräfte verwickelt wurden. Irgendwann verlagerten sich die Auseinandersetzungen an die Oberfläche nachdem die Schächte eingestürzt waren. Dabei zeigte sich, dass wir die Zahl der überlebenden Marines unterschätzt haben. Mindestens 130 von ihnen stellten sich uns in den Straßen. Wir konnten die Zahl auf 73 reduzieren. Sie alle haben sich nun in sechzehn Häuserblocks im Stadtteil Friederichsheim verschanzt und 231 Zivilisten als Geiseln genommen, größtenteils Rentner und Kinder.«

Vermutlich Großeltern, die auf ihre Enkel aufpassen, während ihre Eltern arbeiten. Nadia sah zu, wie die Karte auf einen bestimmten Teil der Stadt beim Fluss heranzoomte. Man sah in den grauen Umrissen der Gebäude kleine rote Punkte; Wärmesignaturen der Menschen im Inneren. Viele waren in bestimmten Zimmern zusammengeklumpt und wurden bewacht. Um die Häuserblocks war ein Ring wesentlich größerer Punkte – die Kriegsmaschinen von Eris.

»Was sollen wir tun?«, fragte Martu Me. »Verhandlungen starten?«

»Nein«, antwortete Natmar An, mit einer Stimme die Nadia nie so bei ihm gehört hatte. Die Worte schnitten wie ein Eisstrum durch die Luft. »Wir haben keine Zeit für so einen Blödsinn. Ashnan, du wolltest doch eine Gelegenheit dein neues Spielzeug zu probieren? Ich glaube, dies ist eine gute Gelegenheit, findest du nicht?«

Die schwarze Flügeladmirälin nickte stumm.

»Sag deinen Einheiten beschied. Sie sollen den Nimrod vorbereiten.«

»Ich wusste doch, so kommen wir nahe dran«, meinte der neunjährige Karl zufrieden, als er und seine Freunde aus einem aufgebenden Abwasserschacht kletterten, der zu eng für Erwachsene war. »So haben wir Spitzenplätze!«

»Mein Kleid ist schmutzig!«, beschwerte sich Marie.

»Mein Knie ist aufgeschlagen«, jammerte Nikolai.

»Ruhe jetzt!«, harsche Karil seine Freunde an und robbte zur niedrigen Mauer, bei der Büsche wuchsen. Über ihnen flog ein Heli von Eris in hoher Geschwindigkeit dahin.

Es herrschte Krieg! Die Action hatte endlich Neu Moskau erreicht! Nie im Leben wollte er dies verpassen. Es gab zwar keinen Weg in die Umzingelung, aber so waren sie zumindest im eigentlichen Ring, den die Soldaten von Eris um die Erdmarines errichtet haben.

Vorsichtig schob Karl einige Blätter zur Seite und spähte über den Rand der Mauer.

Vor ihm war eine kleine offene Fläche, die zum Fluss führte, an dessen gegenüberliegenden Ufer sich die Häuserblocks befanden in denen die Erdmarines sich verschanzt hatten. Drohnen flogen über das Gebiet. Fast direkt vor ihm warne einige der Soldaten von Eris in ihren coolen Exorüstungen. Sie bauten gerade etwas auf.

»Was ist das?«, fragte Marie neben ihm.

»Psssh! Leise. Keine Ahnung. Werden wir gleich sehen.«

»Falls es überhaupt was macht«, grummelte Nikolai.

Es wirkte wie ein sehr langes, dickes Gewehr, das entlang des Laufs mehrmals im Boden verankert war. Das eine Ende stach etwas hinaus in den Fluss. Das andere endete bei einem der Soldaten und war mit der Vorderseite seiner Rüstung verbunden, die an den Armen rot gefärbt war. Allerhand Kabel hingen an ihm herab. Neben ihm pickten einige Tauben in den Resten eines umgeworfenen Crêpe-Standes .

»Es tut mir leid, Nadia«, sagte Namtar An plötzlich direkt an sie gewandt. Seine Stimme war weiterhin so erbarmungslos wie zuvor. »Es waren schöne Zeiten bisher auf Ganymed. Ich verstehe, dass du und andere da denken könnten, dass wir nicht mehr sind als Gäste. Doch dem ist ja leider nicht so. Wir sind Angreifer. Wir sind Invasoren. Wir sind Besetzer. Wir haben unsere Agenda, unsere Pläne. Widerstand muss ausgemerzt werden. Wir müssen Signale der Stärke senden. Wir müssen gefürchtet werden. Wir kamen nicht hierher um Teil von euch zu werden. Überschätze nicht, wie hoch wir euer Leben einschätzen. Es ist Krieg, Nadia. Oh, so weinen die Götter, es ist Krieg und mit Krieg kommen die blühenden Felder der Grausamkeit. Ich entschuldige mich.«

»Nimrod ist bereit«, erklärte Enkidu Ki. »Sollen wir feuern?«

Karl bemerkte erst jetzt die Bolzen an den Füßen der Soldaten von Eris, mit denen sie sich nun am Boden verankerten. Der Offizier der Gruppe hob die Hand.

»Was zum…«, begann Nikolai. Ein Summen begann die Luft zu erfüllen.

Eine der Krieger in den Exorüstungen sah direkt zu ihnen. Seine Sichtivsisier war direkt auf Karl gerichtet. Mit seiner gepanzerten Hand zog er den Daumen über sein Hals.

Die drei Kinder spürten einen Schaudern der durch ihren Rücken ging.

»Ich entschuldige mich für das Klagen, was nun diese Kuppel füllen wird«, sprach Natmar An weiter, während er Enkidu Ki’s Frage abnickte. »Ich entschuldige mich heute die Ruhe dieses Ortes zu stören. Ich entschuldige mich für den Hass, der nun kommen wird. Nun lasset es uns hören, meine Kameraden. Lasset uns die Musik hören. Das Jammern von Nimrod!«

Die Tauben flogen auf, so als hätten sie ein unsichtbares Signal gehört. Die Drohnen über den Häusern auf der anderen Flussseite klärten den Himmel.

Die Hand des Offiziers von Eris senkte sich wieder. Die merkwürdige Waffe feuerte.

Noch im Aufstieg verwandelten sich die Tauben in rotes Geschmiere. Die Rüstungen der Soldaten hielten dem gerade so stand. Als die Druckwelle Karl und seine Freunde erreichte, wurden ihre Trommelfälle sofort zerrissen. Die Kinder erblindeten und wurden zurückgeworfen.

Als das Projektil aus dem Lauf schnellte teilte es den Fluss und praktisch sofort wurden die Häuserblöcke auf der anderen Seite zermalmt. Zeugen berichteten später wie sich die Wände und Dächer einfach vor ihren Augen auflösten als ein hauchfeiner Schrapnel sie zerschredderte.

Alle lebende Materie in diesem Bereich verschwand einfach. Das einzige was übrig blieb waren feine Bluttropfen, die vom Wind fortgeweht wurden. Die Erdmarines, die freundlichen Großeltern, die kleinen Kinder. Alles war im kaum einer Sekunde fort.

Zurück blieb nur eine kleine, geschleifte Ebene an deren Rande die Soldaten von Eris still standen.

»Ich bin kein erbarmungsvoller Mann« erzählte Namtar An, als auf dem Bildschirm alle roten Punkte verschwunden waren. »Die Leere treibt einem jedes Erbarmen aus den Herzen.«

Nadia hörte nur halb zu. Ihre Hände waren vor Entsetzen über ihrem Mund gefaltet, als sie erschreckt einige Schritte zurücktrat, fassungslos auf all das vernichtete Leben blickend. All die Flecken. All die Wärmesignaturen. Es waren lebende Wesen gewesen. Atmende Menschen mit Freunde und Zukunft im Herzen und einer Familie, die gehofft hatte sie am Abend wiederzusehen. Doch nun waren sie alle weg. Verschwunden.

»Nadia«, sprach der Hochadmiral mit scharfer Stimme und sie blickte erschreckt in seine Richtung. Er hab seine Tasse. »Ich hätte gerne einen weiteren Kaffee.«

Als der Abend über Neu Moskau anbrach, hörte man bereits das Weinen der Menschen. Väter und Mütter wollten zum Ort des Geschehens um nach ihren Angehörigen zu suchen, nur um gesagt zu bekommen, dass nicht übrig geblieben war was man beerdigen konnte.

Frauen fielen auf ihre Knie. Männer schrien in Tränen die Soldaten an. Geschwister standen in Schock an der Seite. Passanten schüttelten im Unglauben die Köpfe.

Karl, Marie und Nikolai kamen ins Krankenhaus, verstümmelt und kaum noch am Leben. Schnell verbreitete sich die Geschichte dieser drei, die man einfach ignoriert hatte, während man den Nimrod feuerte.

Düsteres Geflüster erhob sich überall. Man warf neue Blicke auf die Menschen von Eris. Blicke voller Finsternis und Abscheu.

Die großen Schiffe blieben wo sie waren. In großer Höhe schwebten sie über die Stadt, warfen ihre langen Schatten über die Dächer.

Es war ein Anblick, an dem man sich gewöhnt hatte. Er war alltäglich geworden. Doch heute waren sich die Menschen wieder bewusst, was diese Kolosse aus Stahl eigentlich bedeuteten.

Es war Krieg.

Prolog

Kapitel 27

Kapitel 29

Das Lied der Sieben Kastanien – Kapitel 28

Das Lied der Sieben Kastanien – Kapitel 27

Alle Bäume in Neu Moskau färbten sich golden, braun oder rot. Der Wind besaß mit jedem Streifzug über die kalte Landschaft mehr Blätter als Gast. In den Dörfern bereitete man sich auf die kommenden Laternenfeste vor.

Die Admiräle von Eris waren damit beschäftigt den zweiten Angriff auf Eris zu planen und an manchen der Besprechungen durften nicht einmal Nadia und Sonja teilnehmen.

Die Menschen begannen sich dicker anzuziehen, die ersten Schals wurden getragen und am Rande der Wälder hörte man das Schlagen von Feuerholz. Sehr bald würde man auch die Feuer in den Kaminen der Sieben Kastanien entzünden und so mit heißer Schokolade eine wohlige Atmosphäre schaffen. Es blieb offen, wie empfänglich die Besucher vom äußersten Kreis des Sonnensystems für so etwas waren.

Ab und an besuchte Nadia weiter den Hauptmechaniker der Sargon. Es flogen mehrmals am Tag Helis hoch zum Schiff und Namtar An hatte es erlaubt, sie sogar dazu ermutigt. Sie brachte jedes Mal auch Geschenke mit wie Ahornblätter, Kastanien oder ein selbstgebastelter Windfang. Er hängte alles immer um sich herum in seinem Raum auf, der so immer bunter und heimischer wirkte.

Sonja fragte eines Tage überraschend ob sie nicht auch mitkönnte. Sie brachte eine gestrickte Blume mit, die sie ihm überreichte.

»Ist das auf eurer Kolonie ein Symbol von Verlobung?«, fragte der Hauptmechaniker mit einer stählernen Stimme, als er das Kleinod annahm..

Eine halbe Minute des Schweigens folgte.

»Das war ein Witz«, meinte er dann in genau demselben Tonfall. Vermutlich war er nicht in der Lage Stimme zu ändern oder Nuancen zu verpassen.

Ein paar Treffen weiter und Nadia bemerkte, dass nun Sonja nun meistens mit ihm redete und nicht mehr sie. Es ging um die Sterne, das Sonnensystem und Reisen durch die Galaxie. Er dachte weit hinaus, während sie weiter auf der Erde behaftet blieb. Trotz dieses Gegensatzes stritten sie sich nie. Es war eher so, dass sie aufeinander aufbauen. Aus der Sicht von Nadia wirkte es so wie zwei Hälften die zusammenkamen und was wunderbares ergaben. Dies traf sowohl auf die Themen als auch auf die beiden Sprechenden zu.

Mit Faszination stand Nadia daneben und hörte zu. Ein klein wenig Neid schlich sich dabei in ihr Herz, da sonst sie es ja war die Freude in die Herzen der Menscen brachte. Doch sie verdrängte dies schnell und versuchte sich stattdessen für Sonja zu freuen.

»Bald wird die Eris Flotte aufbrechen, zusammen mit der Makemake und Haumea Flotte«, sprach der Hauptmechaniker eines Nachmittags. »Die zweite Schlacht um Ceres wird anders sein als zuvor. Der Admiral denkt, dass die Erde diesmal Titanen gegen uns schicken wird.«

Sonja schwieg daraufhin. Für einige Zeit hörte man nur noch das rhythmische Dröhnen der Maschinen im Schiff.

»Wünschst du dir, dass die Erde gewinnt und ich dort sterbe?«, fragte der Hauptmechaniker dann.

»Natürlich«, antwortete das Mädchen nach einem Zögern. Doch es fehlte ihre gewohnte Kraft und sie blickte zu Boden. »Ihr werdet in eure Schranken verwiesen.«

»Ich verspreche ich komme wieder, Mädchen.«

Nach dem Besuch shoppten die beiden Mädchen noch etwas in der Stadt. Nadia kaufte sich Wanderstiefel, während Sonja ein neues Paar Ohrringe fand. Trotz der stärker werdenden Kälte war es ein sonniger Tag und viele Menschen waren in ihren langen Mänteln unterwegs.

»Machst du dir Sorgen um ihn?«, wollte Nadia wissen, als sie sich in ein Café setzten um was Warmes zu trinken.

»Fang jetzt nicht auch noch damit an!«

»Tut mir leid.«

Eine unangenehme Stille breitete sich anschließend aus. Ihre Getränke wurden geliefert. Nadia nippte an ihrer heißen Schokolade und betrachtete ihre Freundin vorsichtig. Sonja dagegen rührte mit ihrem Löffel lustlos in ihren Kaffee-Latte herum, den Kopf auf den Arm gelehnt und nachdenklich aus dem Fenster starrend.

Gepanzerte Fahrzeuge von Eris fuhren draußen vorbei. Irgendwo weiter hinten im Laden zerbrach eine Tasse.

»Titanen«, sagte Sonja plötzlich und Nadia sprang fast von ihrem Stuhl. »Die Erde wird wirklich Titanen aus schicken um Ceres zu verteidigen? Glaubst du die Sargon kann gegen einen Titanen gewinnen? Was hat die Allianz um gegen solch schreckliche Kriegsmaschinen zu bestehen?«

»Das hat sie tatsächlich gefragt?«, meinte Namtar An erstaunt, als Nadia ihm am Abend von dem Gespräch erzählte. Er hatte sich an einem Tisch im Ahorn Zimmer gemütlich gemacht. Vor sich einige Bücher aus der Dorfbibliothek, die Namen hatten wie Paradies Lost oder Der Prozess. Gleichzeitig arbeitet er an seinem Tablet und trank Kaffee.

»Ja, Mister«, antwortete Nadia. »Und da wollte ich wissen, wie…«

»Wie wir sie beim Neptun besiegt haben?«

»Ja.«

Namtar An lehnte sich überlegend zurück und sah aus dem Fenster zu den leuchtenden Monden des Jupiters am Himmel. Die Fledermäuse begannen ihren nächtlichen Tanz.

»Als David ins Tal von Elah hinabstieg um den gewaltigen Goliath zu besiegen, so hatte er eine Schleuder dabei. Ein gepanzerter Ritter konnte von dem kleinen Zacken einer Hellebarde niedergestreckt werden. Ein Koloss ist mächtig, aber nicht unbesiegbar. Suche die Waffe, gegen die er schwach ist. Und wenn es keine Waffe gibt, so erfinde eine.«

Er öffnete ein Ordner auf dem Tablet und warf es auf dem Tisch. Mit einer Handgeste erlaubte er Nadia dann drauf zu sehen.

Auf dem Bildschirm war das Bild eines Raumschiffes irgendwo im Vakuum, im Hintergrund das endlose Meer der Sterne. Doch es war anders als alle Schiffe, die sie bisher gesehen hatte.

Es wirkte wie ein langes, kantiges U. Die Hörner schienen die meiste Masse auszumachen. Eine Art Kugel war an der Oberseite des Verbindungsendes angebracht mit dem Antrieb kurz dahinter. Im großen und ganzen wirkte die ganze Apparatur sehr merkwürdig.

»Ähm«, begann sie und sah ihn hilfesuchend an.

Namtar An’s Lächeln wurde etwas breiter, als er sich über ihre Reaktion amüsierte. »Ich glaube ich kann es dir ruhig sagen. Das dort ist ein Ishkur. Wir haben nur drei solcher Schiffe im Moment und sie sind eines unserer größten Schätze. Das Schiff ist Zweihunderneunzig Meter lang. Zweihundertdreißig davon nehmen die Arme ein. Es ist ein einziges, riesiges elektromagnetisches Katapult, das Ziele im Gürtel von hier aus ins Visier nehmen kann. Man könnte sagen es ist das gewaltigste ballistische Geschütz, das jemals von Menschen gebaut wurde. Wir haben sie nach Neptun größtenteils zurückgehalten, doch bei Ceres werden wir sie wieder aussenden. Die Ishkur, liebe Nadia, ist unser Titanenkiller.«

Nadia hatte das Gefühl, das ein schwerer Glockenschlag durch sie vibrierte. Die Worte des Hochadmirals klangen so als ob er etwas Großartiges offenbart hätte. Erwartungsvoll sah er sie an. Weiterhin auf den Bild starrend versuchte sie irgendeinen klugen Kommentar zusammenzubekommen.

Nun, vielleicht wird dies Sonja etwas beruhigen. Wissend, dass so etwas die Sargon beschützt.

»Äh… das ist sehr interessa…«

Sie wurde im Wort unterbrochen als die Tür aufflog und Enkidu Ki hineineilte.

»Ist etwas passiert?«, fragte Namtar An umgehend und stand auf.

»In der Stadt gab es eines Auseinandersetzung, Hochadmiral. Es endete in eine Geiselnahme.«

»Mit Stadt meint er doch nicht etwas Neu Moskau?« Nadia merkte kaum wie sie die Worte aussprach. Ihre Hand legte sich sorgenvoll auf ihren Mund sie trat in Schock etwas zurück. Sie dachte an die Geschäfte und weißen Fassaden zurück, an denen sie vorhin mit Sonja vorbei spaziert war.

Die beiden Männer von Eris ignorierten sie.

»Wer?«, wollte der Hochadmiral wissen.

»Die Marines, Hochadmiral. Die Marines von der Erde. Wir haben sie aufgespürt. Wie erwartete waren sie nicht bereit in Gewahrsam genommen zu werden.«

Prolog

Kapitel 26

Kapitel 28

Das Lied der Sieben Kastanien – Kapitel 27

Das Lied der Sieben Kastanien – Kapitel 26:

»Denkst du wirklich, dass dies eine gute Idee ist?«, fragte Sonja, als der Heli der Allianz vor ihnen auf den grünen Platz aufsetzte und einige der gepanzerten Soldaten ausstiegen.

»Glaubst du etwa, dass man uns entführen und auf Eris lebend sezieren wird«, scherzte Nadia, die allerdings auch etwas Nervosität verspürte. Hinter ihr gähnte Kevin, auf seiner Wange wieder die roten Umrisse einer Hand sichtbar. »Außerdem ist es jetzt zu spät zum Ablehnen.«

Es war ein sonniger Tag und vermutlich einer der letzten warmen, bevor die Kuppel vollkommen zum Herbst umschaltete. Kinder waren noch in Shorts und kurzärmligen T-Shirts unterwegs und viele holten sich noch ein letztes Eis bei vielen der Cafés nach der Arbeit. Eine tuschelnde Menschenmenge versammelte sich in der Nähe und einige deuteten auf sie, während der oberste Administrator Enkidu Ki mit dem Piloten redete.

Gestern war Natmar An überraschend zu ihnen gekommen und hatte gefragt ob sie nicht Lust hätten sein Flaggschiff, die Sargon, zu besichtigen. Er meinte es wäre ein Ausgleich für all die wunderbaren Sachen, die sie ihm bisher auf Ganymed gezeigt hatte. So könnte sie etwas mehr von seiner Welt sehen.

Die Einladung kam so überraschend, dass Nadia zuerst aus reinem Instinkt Ja sagte – denn sie sagte normalerweise bei so etwas niemals nein – und hatte so auch Sonja und Kevin zu diesem Ausflug verdammt.

Frau Zwetkow hatte es geschafft sich herauszuwinden und genoss nun den Tag in Arbali, während die Admiräle sich im Rathaus mit Viktor Orlow trafen.

»Ihr könnt nun einsteigen«, meinte Enkidu Ki, der sich angeboten hatte sie zu führen.

»Ist das wirklich in Ordnung?«, fragte Sonja in ihrer Verzweiflung, während Kevin umgehend einstieg.

»Wir haben euch gescannt und abgecheckt. Hochsicherheitsbereiche werden wir euch nicht zeigen. Sonst beherrschen wir weiterhin den gesamten Datenstrom von Ganymed. Egal was ihr also sieht und später aufschreibt, es wird niemals diesen Mond verlassen – zumindest nicht bevor der Krieg zu Ende ist. Bitte, steigt nun ein.«

Und so blieb ihnen keine Wahl als in den Heli zu klettern, sich festzuschnallen und dann abzuheben.

Nadia versuchte ein wenig Vorfreude in sich zu sammeln. Immerhin besuchte sie einen neuen, fantastischen Ort. Dies sollte doch eigentlich ein Grund sein vor Aufregung zu hüpfen. Sie würde etwas Neues kennenlernen. Sie würde auf eine Entdeckungstour gehen. Sie würde etwas über fremde Menschen lernen. Sie würde…

Der Schatten des mächtigen Gilgamesh Schiffes legte sich über sie und jegliche freudigen Gedanken, die sie sich eingeredet hatte, verschwanden umgehen. Stattdessen schluckte sie, als sie zu dem dunkelgrauen Ungetüm aufblickte.

Ich will wieder zurück und ein Eis essen.

Man vergaß schnell, dass diese Schiffe 1.2 Kilometer lang waren, wenn man sie vom Boden aus betrachtete, doch desto näher man kam, desto erdrückender wurde die schiere Größe des Kolosses. Es war als hätte jemand einen Berg aus nacktem Stahl geschliffen und in den Himmel gesetzt. Der kantige, langezogene Zentralkörper nahm mehr und mehr ihr Sichtfeld ein. Die Stahlgerüste an den Seiten, die die elektromagnetischen Katapulte beherbergten, ächzten in dem Wind und es war wie ein dunkler Gesang, der sie willkommen hieß.

Der einzige Schmuck, der goldene geflügelte Mann mit der Krone ganz vorne, blickte auf sie herab und seine leeren, königlichen Augen straften sie mit Bedeutungslosigkeit. Nichts Schönes oder Beruhigendes lag in dieser Galionsfigur.

Monolithisch ruhte der Gilgamesch dort im Blau und seine Präsenz umpackte ihre Seele und ihre Gedanken, ließen sie klein fühlen im Angesicht der kühlen Ambitionen, die dieses Monstrum gebaut hatten. Keine Glorie und keine Erhabenheit wie bei den Erdenschiffen, nein. Dieses Ding zeigte so viel Gefühl wie ein von einem grausamen Gott geworfener Meteor, der dabei war hinab zu regnen um zu alle zu töten.

Als sie im Hanger landeten – der im Weltall geschlossen sein würde – fegte ein heftiger Wind sie fast von den Füßen. Enkidu Ki erlaubte ihnen einige Fotos von der Stadt unter sich zu machen, bevor die Führung begann. Die Gruppe war sehr still geworden zu diesem Zeitpunkt.

Die ersten Korridore waren hoch und breit, damit auch die Soldaten mit ihren Exoskeletten durchpassen konnten. Doch nachdem sie die Umkleidekabinen passiert hatten, wurde alles sofort enger und schmaler. Nadia musste an alte U-Boote aus dem fernen zweiten Weltkrieg denken. Grau und schmucklos waren sie, mit Röhren und Kabeln die an der Decke entlangliefen. Wenige der blassen Bewohner der Allianz kreuzten ihren Weg und die meisten trugen schwarze Anzüge mit Helmen, die die Gesichter verdeckten.

Enkidu Ki erzählte ab und an etwas über das Schiff, doch das meist war Technisch und unverständlich für sie. Nur Kevin schien wirklich interessiert zuzuhören und er bemerkte einmal, wie Schade es war, dass seine Verlobte nicht hatte mitwollen kommen. Der Handabdruck an seiner Wange ließ dabei vermuten, dass sie nicht nur nicht mitkommen wollte, sondern es wie Sonja für eine schlechte Idee gehalten hatte.

Die beiden Mädchen liefen schweigend mit, die Köpfe geduckt und dem mechanischen Stampfen lauschend, das hier über allem lag. Dies war keine Umgebung in der sie sich wohl fühlten.

Die Brücke war eine weite Röhre an deren Ende Sitze mit Terminals kreisförmig vom Boden hoch zur Decke angeordnet waren. Im Gegensatz zu zivilen Schiffen mit ihren Zentrifugen hatten die meisten Militärschiffe nichts – außer Beschleunigung – um Schwerkraft zu erzeugen. Somit würden die Steuermänner und Schützen von Eris im Weltall leicht hoch zu ihren Sitzen kommen. In der Mitte war ein Podest auf dem Nadia sich sehr gut Natmar An vorstellen konnte.

In der Schwärze vor den Sitzen mit ihren Terminals waren laut Enkidu Ki große Monitore, die gewaltige Mengen an Daten und Karten vom Sonnensystem zeigen würden, wenn das Schiff wieder abhob. Doch nun waren sie alle abgeschaltet.

Von da begannen sie ihren umständlichen Weg nach hinten zum Maschinenraum. Es gab nicht wirklich viel zu sehen. Winzige Kajüten mit Betten voll mit Anschlüssen und Kabeln. Kleine Aufenthaltsräume mit Automaten für Nahrung und Wasser und einigen angeschraubten Tischen und Stühlen aus Blech. Toiletten die aussahen wie moderne Folterinstrumente.

Es war ein langer, unbequemer Marsch durch das Schiff, das zu 80% aus Treibstoff und Munition bestand, was nur wenig für die darin dienenden Menschen übrigließ. Eine Maschine nur dazu da um durch die Sterne zu reisen und den Tod zu bringen.

»Der Hauptmechaniker freut sich bereits euch zu sehen«, meinte Enkidu Ki, als vor ihnen die Tür zum Maschinenraum geöffnet wurde. »Er kriegt selten Besuch. Seid bitte nett zu ihm.«

»Hängt er etwa die ganze Zeit darin rum?«, murmelte Sonja, die versuchte ihren Stress mit mehr giftigen Kommentaren zu überdecken. Sie schubste Kevin beiseite, der neben ihr ein Sandwich aß und ging als erstes in den Raum, aus dem rotes Licht drang. »Bringen wir es hinter uns und…«

Sie brach ab und erstarrte. Ihr Mund fiel nach unten und ihr Schultern begannen zu zittern.

Vorsichtig quetschte Nadia sich an ihrer Freundin vorbei und sah, was vor ihr lag.

Es war ein kleiner runder Raum, mit kastenförmigen Maschinen an den Seiten. Am anderen Ende war etwas was fast aussah wie ein sehr hoher Schmelzofen und rotes Glühen kam aus den verschiedenen Öffnungen. Tausende von Rohren führten hinauf zur Decke wie bei einer Kirchenorgel. Weiter oben war dazu ein Ring an dem dutzende von mechanischen Armen herunterhingen, die meisten mit grässlich aussehenden Werkzeugen bestückt.

In der Mitte des Raums ragte ein dünnes Podest auf und darauf thronte eine schrecklich entstellte Gestalt. Sonja, deren Beine schwach geworden waren, lehnte sich gegen Nadia, die selbst kaum den Schock verkraftete.

Unfassbar dünn, ohne Beine und mit unnatürlich langen Armen sah das Wesen auf sie herunter. Anstatt Finger liefen Kabel von den Händen herab. Das meiste Fleisch war vom Körper gekratzt, sodass man an vielen Stellen die Knochen sehen konnte, sofern Stahl sie nicht verdeckte. In einem Plastikbeutel pumpte das Herz das wenig verbliebene Blut durch die Adern. Metallstifte ragten aus dem blanken Rückgrat und der Schädel besaß weder Haar, Haut, Ohren, Nase oder Unterkiefer. Schläuche führten von dem Ort weg, wo eigentlich der Mund hätte sein sollen. Eine dunkle Membran spannte sich über das eine Auge und das andere war blutunterlaufen und besaß künstliche Lieder aus Plastik.

»Willkommen«, sagte eine metallische Stimme die von überall zu kommen schien. »Willkommen in meinen Leib.«

»Was«, ächzte Sonja mühevoll hervor, »was bist du?« Mehr schien sie nicht herausbringen zu können.

»Der Hauptmechaniker der Sargon. Von 145 Bewerbern wurde ich ausgewählt Teil dieses Schiffes zu werden. Eine Ehre, die mich bis heute mit Stolz erfüllt.«

»Du bist Teil des Schiffes«, wiederholte Nadia, schüttelte dann aber rasch den Kopf und verneigte sich ungeschickt. »V-verzeihung. Ich wünsche Ihnen einen guten Tag, M-mister. Mein Name ist Nadia Krylow. Danke, dass Sie uns in den Maschinenraum lassen.«

Kevin machte ein Foto hinter ihr.

»Höfliches Mädchen«, hallten die Worte durch den Raum. »Sehr höflich. Danke. Ich kenne aber bereits eure Namen. Keine Notwendigkeit, dass die anderen sich vorstellen. Ich freue mich euch hier begrüßen zu können. Es war nett vom Admiral euch hier vorzulassen. Trotz der Wichtigkeit meiner Position kann es einsam hier werden, besonderen wenn ein Großteil der Crew unten in der Kolonie gerade haust.«

»Du kannst dieses Schiff also nicht verlassen?«, fragte Sonja.

»Nein. Ein Hauptmechaniker in einem Schiff der Allianz zu werden, bedeutet einen Großteil seines alten Körpers auf ewig aufzugeben und dafür einen wesentlich mächtigeren Leib zu bekommen. In der Schlacht spüre ich den Schmerz der Sargon und weiß wie man ihn lindern kann. Ich atme mit dem Stahl. Ich genieße den herrlich kühlen Wind der Kolonie, der gerade über die Panzerung streift. Ich bin der Zorn, der die Waffen lenkt. Der Wille, der die Triebwerke vorantreibt. Die Logik des Hauptrechners. All dies bin ich.«

»Bis zu deinem Tod?«

»Bis zu meinem Tod.«

»Wie kannst du…«, brachte Sonja hervor. »Wie kann überhaupt jemand sich für so ein Gefängnis entscheiden.«

»Sonja?«, flüsterte Nadia besorgt und griff nach ihrer Freundin.

»Der Admiral hat von dir berichtet, Kleine. Du bist diejenige die die Freiheit so hoch schätzt. Diejenige, die nach dem Krieg diese Kolonie verlassen will. Sei unbesorgt. Ich habe zwar vieles aufgegeben, doch dafür Neues bekommen. Ich kann nun nicht mehr Gras unter meinen Füßen spüren, Vögeln lauschen oder Wein genießen. Doch dafür höre ich die Musik der Planeten. Ich gleite über den Staub der Sonne. Ich schwebe in der Leere des Universums und sehe in die Schwärze, wo die Götter hausen. Und wenn der Krieg eines Tages zu Ende ist und die Sargon noch besteht, so werde ich irgendwann sogar die Grenzen dieses Sonnensystems verlassen.«

So wie er sprach musste Nadia an einen Priester denken, der in einer Kathedrale sprach. Eine Gewalt lag dahinter, die ihr den Atem raubte. Kurz vergaß sie sogar seinen schrecklichen Anblick, der sogar den des nackten Namtar An übertraf.

»Kleine Nadia«, redete der Hauptmechaniker weiter und sie zuckte zusammen, als sie ihren Namen hörte. »Der Admiral erzählte du hättest einen Mund aus Gold und ein Herz rein wie Quellwasser. Er sagte, du würdest all die Schönheit dieser Kolonie repräsentieren und nun wo du vor mir stehst, muss ich ihm zustimmen. Bitte, erzähl mir von deiner geliebten Kolonie. Erzähl von deiner Heimat. Erzähle, wie du es dem Admiral erzählt hast. Bitte. Es wäre ein Freude dir zuhören zu können.«

Diese Bitte traf sie wie ein Schlag. Fast taumelte sie sogar.

Wie soll das tun? Hier? Vor dir und inmitten all dieser Hässlichkeit?

Sie schluckte und sah sich um. Verzweifelt suchte sie nach Wörtern in ihrem Inneren, doch da war nur Chaos und Entsetzen.

Plötzlich spürte sie Sonjas Atem auf ihrer Wange. »Willst du hiernach ein Eis haben, Nadia?«, fragte sie mit zitternde Stimme, die Schwierigkeiten ihrer Freundin bemerkend. »Du hast doch dieses neue Cafè gefunden? Zeig es mir doch. Ich würde es gerne probieren«

Kevins Hand legte sich auf ihre Schulter und er zeigte ihr auf seiner Kamera ein Foto von Neu Moskau aus der Luft, vermutlich von vorhin auf dem Hangar.

Sie konnte weiße Tauben sehen, die über die grünen Dächer flogen. Viele der Straßen und Plätze erkannte sie. So häufig war sie über den dortigen Pflaster getanzt. Und ja, nun wo Sonja es erwähnt hatte erinnerte sie sich an das herrliche kleine Cafè im Norden mit dem dicken Besitzer, der gut in eine Alpenhütte passen würde. Was für eine nette Atmosphäre er in seinem winzigen, privaten Reich erzeugt hatte. Ja, sie musste es Sonja unbedingt später zeigen.

All die Bilder kamen nun herauf. Die Stadt wurde bald verdrängt von den Feldern, Wiesen und Wäldern außerhalb bis sie gedanklich auf der Terrasse der Sieben Kastanien vor dem Wasserfalls stand. Der Wind und das Rascheln der Blätter vertrieben alle Panik und Ekel.

»Danke«, sagte sie erleichtert, nun wieder gefasster. Sie genoss noch etwas das Bild der geliebten Stadt vor sich, bevor sie die Kamera wegschob.

Sie amtete einmal tief ein und trat vor. Sie sah hoch zu dem Hauptmechaniker und dessen verriebenem Auge. Obwohl ein Gesicht fehlte, so entdeckte sie den Stolz darin, sowie einen unbrechbaren Willen. Doch da war auch ein Funken Traurigkeit und das Vertreiben von eben solcher Traurigkeit gehörte zu ihrem Job. Sie könnte später Eis essen, er nicht. Also würde sie mit ihren Worten nun so viel zu ihm bringen, wie sie konnte.

Sie lächelte ihn an und begann zu erzählen.

Prolog

Kapitel 25

Kapitel 27

Das Lied der Sieben Kastanien – Kapitel 26: